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Doswidanija – und dann haben wir einfach getanzt

Bericht über den Schüleraustausch mit Wolgograd 1992

... Und nach dem Abschiedsessen schob die Gastmutter den Tisch beiseite und dann haben wir einfach getanzt … Daran werde ich mich sicher noch oft erinnern, wenn ich an unsere Rußlandreise im Rahmen der seit 4 Jahren bestehenden Schulpartnerschaft des Doppelgymnasiums mit der Mittelschule Nr. 117 in Wolgograd zurückdenke.

Nachdem wir uns von unseren Eltern in Düsseldorf verabschiedet hatten, stiegen wir in das Flugzeug nach Sankt Petersburg. Wir flogen in ein Land, das viele von uns nur aus dem Fernsehen kannten, dessen Größe man sich nicht vorstellen kann. Der Flug mit der Iljuschin von Aeroflot verlief normal. Nur einige von uns wurden Zeugen, wie drei Ärztinnen, die zufällig als Touristen an Bord waren, sich darum bemühten, einem jungen Mädchen den Unterkiefer wieder einzurenken, was dann glücklicherweise noch vor der Landung gelang. Nach drei Stunden waren wir da- mit unseren Koffern standen wir, nachdem wir die Visakontrollen mühelos passiert hatten, vor dem internationalen Flughafen von St. Petersburg.

Um uns sprachen die Menschen die Sprache, die wir seit drei Jahren lernen. Unter ihnen Galina, eine der Deutschlehrerinnen unserer Partnerschule in Wolgograd. Sie betreute uns während unseres Aufenthaltes in Sankt Petersburg. Nach herzlicher Begrüßung begleitete Galina uns zum Hotel in dem umfunktionierten Kloster „Fedorowskij gorodok“ in Puschkin. Hier, im ehemaligen „Zarskoe selo“, einer der Sommerresidenzen der Zaren am Stadtrand von Sankt Petersburg, sollten wir für vier Tage zu Hause sein. Gelegenheit, in freien Stunden in dem wunderschönen Park des Katharinenpalastes spazierenzugehen und die ungeheure, aus den Trümmern des Krieges wiedererstandene Prachtentfaltung des Zarismus auf sich wirken zu lassen (das berühmte Bernsteinzimmer des Palastes fehlt bis heute). Gelegenheit aber auch, sich bewusst zu machen, daß hier in Puschkin im zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten stationiert waren und mithalfen, Leningrad 1941-1944 in dem Würgegriff der 900-tägigen Blockade zu halten, der weit mehr als 1 Million Menschen zum Opfer fielen.

In den nächsten vier Tagen schwankte unsere Stimmung stets zwischen Staunen und Begeisterung. Dazu trugen die vielen kleinen und großen Erlebnisse bei, die wir teils während, teils außerhalb des ausgezeichneten Programms hatten. Hierzu zählten z.B. die weltberühmte Eremitage, die Peter-und-Pauls-Festung, der Panzerkreuzer Aurora, der Sommerpalast Peters des Großen in Peterhof, ein Ballettbesuch (Tschaikowskijs „Nussknacker“ im Marijnskij, dem ehemaligen Kirow-Theater), das „Russische Museum“.

Nicht minder erwähnenswert ist es, morgens zum Frühstück in einem der chinesischen Pavillons des Parks am Katharinenpalast in Puschkin ein gebratenes Hähnchen zu essen, einem Flötenspieler im Schlosspark zuzuhören, mit Straßenhändlern über den Preis von Souvenirs zu verhandeln, einen Blick in eine öffentliche Toilette zu werfen, ein Telegramm von Russland nach Hause zu schicken und die Menschen zu beobachten.

Das Mittagessen im Restaurant „Baltika“ am „Plostschadj Mira“ („Platz des Friedens“) bot immer wieder Glegenheit, sich der außerordentlichen Situation bewusst zu werden, in der Russland sich befindet. Der Platz, durch den Bau einer neuen Metrostation verunstaltet, gleicht einem Basar mit einer Vielzahl von kleinen Buden, in denen vom italienischen Likör bis zum Turnschuh, vom amerikanischen Kaugummi bis zum Filzstift alles zu kaufen ist, was noch vor einiger Zeit, wie man uns erzählte, in dem Land nicht zu bekommen war und auch jetzt für die Menschen wegen der enormen Preise ein Wunschtraum bleiben muß (1 Paar Turnschuh für mehr als 2 durchschnittliche Monatsgehälter).

Zwischen den nicht unbedingt seriös wirkenden Verkaufsständen Gruppen von Schwarzhändlern, dunkle Gestalten, die irgendwelchen Geschäften nachgehen, und die duftenden Rauchschwaden eine Schaschlikgrills – beinahe eine orientalische Atmosphäre und damit typisch für Sankt Petersburg, das insgesamt einem riesigen Jahrmarkt ähnelt, auf dem jeder seine Habseligkeiten zum Kauf anbietet.

Dennoch ist das ehemalige Leningrad unverkennbar eine sehr westeuropäische Stadt, die mit der Schönheit ihrer Paläste und Kanäle den Touristen die erkennbare Armut der Menschen und ihre tägliche Hast nach dem Lebensnotwendigen beinahe vergessen lässt. Ein faszinierender Ort. Der Kontrast zwischen dem erstklassig renovierten Devisenhotel „Evropejskaja“ und der alltäglichen wirtschaftlichen Misere der Einwohner ist nur schwer auszuhalten. Wem gehört eigentlich diese Stadt?

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Nach vier Tagen verließen wir St. Petersburg. Vor uns lagen über 2000 Kilometer, die unser Zug von St. Petersburg, dem „Fester nach Europa“, wie Peter der Große seine neue Hauptstadt nannte, bis nach Wolgograd, der südlichen Millionenstadt mit der schrecklichen Geschichte des ehemaligen Stalingrad, dem Hauptziel unserer Reise, zurücklegen würde.

Jetzt bekamen wir erstmalig einen Eindruck von der Größe des Landes. Stundenlang fuhren wir durch anscheinend endlose, mild geschwungene Ebenen, vorbei an riesigen abgeernteten Ackerflächen, dazwischen die rauchenden Feuer in den Gärten kleiner Siedlungen mit bunten Holzhäusern, wo ganze Familien mit der Ernte von Kartoffeln beschäftigt waren. Schön die Natur an der Bahntrasse: das bunte Laub der Sträucher und Bäume, die rot glühenden Beeren der Ebereschen, überreich besetzte verwilderte Apfelbäume. Ein fruchtbares Land, das große Möglichkeiten hat.

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Zwischenstation in Elec, einer Provinzstadt auf dem Wege. Der Bahnsteig überfüllt mit Menschen, meist Frauen, die den Reichtum des Landes anbieten: Birnen, Pflaumen, eingelegte Gurken, zart gedünstete Maiskolben, Tomaten, Gebäck und Äpfel, Äpfel, Äpfel, die köstlich schmecken. Der Bahnhof, ein Relikt aus der sowjetischen Zeit, mit Fresken vorwiegend in sozialistischem Rot: das Lob der Partei und der Arbeit. Über allem Lenin, der Schutzheilige. Kaum vorzustellen, daß auch hier heftige Diskussionen über Marktwirtschaft geführt werden.

Gespräche mit unseren russischen Abteilgenossen – einigen von uns gelang es tatsächlich, die Spielregeln von Mau Mau zu erklären – Lesen und immer wieder die Betrachtung der vorbeiziehenden Landschaft oder der Bahnhöfe, an denen wir halten – Langeweile kam nie auf. Bei Kalinin, das heute wieder Tver heißt, überqueren wir die  Wolga, in der 1000 Kilometer südlich einige von uns später baden werden..

Hinter Elec schließlich der Don, der sagenumwobene große russische Strom, der in Wolgograd durch den Wolga-Don-Kanal mit der Wolga verbunden ist. Am Ufer dieses Kanals werden wir später wohnen und beobachten, wie die riesigen Schiffe eine der Schleusen passieren. Und immer wieder mal auf einem Bahngleis die kurze Nachbarschaft mit anderen Zügen, z.B. einem aus Tadschikistan: gedörrte Fische baumeln am Fenster, dahinter bunt gekleidete asiatische Menschen bei einer üppigen Mahlzeit. Das Ganze wirft noch einmal ein Schlaglicht auf die Vielfalt und die riesige Ausdehnung des ehemaligen Vielvölkerstaates Sowjetunion, der nun in seine Einzelteile zerfällt.

Und bald schon waren die dunklen Äcker verschwunden und zu beiden Seiten der Bahntrasse breitete sich die waldlose graue Steppe aus, die in der Nähe der Städte mit unzähligen kleinen Häuschen übersät ist: Datschen, einfach irgendwo in die Landschaft gesetzt, mit einem Stück Land. Die Menschen nehmen die Sicherung der Ernährung selbst in die Hand. Die Temperatur näherte sich 30°. Der Süden und damit das Wolgograder Gebiet rückte näher.

 

Herzliche Begrüßung

 

Die Anstrengungen einer 39-stündigen Fahrt durch das Herz Russlands konnte man uns wohl im Gesicht ablesen, als wir bei strahlendem Sonnenschein in Wolgograd aus dem Zug stiegen.

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Es war aber auch die Aufregung, die bei uns kurz vor der Ankunft ihren Höhepunkt fand. Ein Teil der Gruppe wusste überhaupt noch nicht, wer sie nun empfangen würde, und diejenigen, die bereit zum zweiten Mal Wolgograd im Rahmen unseres Schüleraustausches besuchten, waren auf das Wiedersehen mit den Bekannten gespannt. Doch diese gemischten Gefühle änderten sich schlagartig, als die Vertreter unserer Partnerschule mit strahlenden Gesichtern auf uns zukamen und alte sowie neue Bekannte gleichermaßen herzlich mit Brot und Salz begrüßten. Nicht alle konnten die Freudentränen zurückhalten.

Sind es bis hierhin fast nur die Lehrer gewesen, die schon mit ihren Kolleginnen und Kollegen bekannt geworden waren, so kamen nach einer einstündigen Busfahrt im „Krasnoarmejskij rajon“ (Rotarmisten Stadtteil) auch wir Schülerinnen und Schüler auf unsere Kosten. Im Zimmer der Direktorin Ljudmila A. Abramova wurden wir einzeln unseren Gastgebern vorgestellt, und nachdem wir alle eine Blume geschenkt bekommen hatten, hieß es für viele Abschied nehmen von der Gruppe und damit von der deutschen Sprache: das Abenteuer „Russisch“ begann. Denn in den nächsten Tagen lernten wir mit unseren russischen Gastgebern jenseits organisierter Gruppenaktivitäten den Alltag kennen. Als wir dann zwei Tage später mit den Marlern wieder zusammentrafen, gab es natürlich viel zu erzählen. Die einen waren von der Schnellbootfahrt auf der Wolga begeistert oder schilderten die Freude ihrer Gastgeber über das mitgebrachte Geschenk. Die anderen berichteten von spärlich ausgestatteten Geschäften. An die täglichen Lebensverhältnisse (Wasserprobleme, kein Auto, oft kein Telefon) hatte man sich schnell gewöhnt. Nicht zuletzt trugen hierzu auch die Liebenswürdigkeit und Fürsorge der Gasteltern bei, die trotz der schlechten wirtschaftlichen Situation in Russland nie einen Wunsch von uns unerfüllt ließen, selbst wenn er nicht ausgesprochen wurde.

Wiederum andere erzählten von ihrer ersten Fahrt mit einem anscheinend völlig überfüllten Trolleybus. Die nächsten waren von den einfachen Wohnungen ihrer Gastgeber beeindruckt, in denen sie sich dennoch bald wohlfühlten. Daneben wimmelte es natürlich von komischen Erlebnissen, die unsere mehr oder weniger guten Russischkenntnisse (sie haben sich übrigens überraschen schnell verbessert!) mit sich brachten.

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Nachdem wir nun alle mit „unseren Russen“ bestens vertraut waren, sollten in den nächsten drei Tagen die organisierten Programmpunkte folgen. Der Schulbesuch und die gemeinsame Fahrt auf der Wolga zählen sicherlich zu den bleibenden Erinnerungen an den Aufenthalt. Wer hat schließlich schon mal mit echten Kosaken getanzt? Wer kann schließlich von sich behaupten, schon einmal auf der Wolga russische Volkslieder geschmettert zu haben? Wem hat schon einmal bei der spektakulären feierlichen Eröffnung des Schuljahres am 1. September ein Fünftklässler eine Rose in die Hand gedrückt? Außerdem haben wohl die wenigsten schon einmal eine (gar nicht mehr so strenge) Deutschstunde in Russland erlebt. Weitere Exkursionen standen auf dem Programm.

Zum Beispiel die Besichtigung der trotz der Schlacht um Stalingrad erhaltenen 400 Jahre alten Siedlung der deutschen Herrnhuter Brüdergemeinde „Sarepta“, die von einer sehr aktiven deutschen Gruppe aus Wolgograd mit öffentlicher Unterstützung zu einem Museum und einem deutschen Kulturzentrum mit einem Wirtschaftslyzeum ausgebaut wird.

Zuvor besuchten wir den Mamai-Hügel mit dem Wahrzeichen Wolgograds, der gigantischen Betonskulptur „Mutter Heimat“. Am ewigen Feuer, das an die gefallenen Soldaten der Schlacht von Stalingrad erinnert, die vor 50 Jahren begann, legten wir zu Robert Schumanns „Träumerei“ jeder eine Margerite nieder. Niemand wird mehr behaupten, es gebe keinen praktischen Geschichtsunterricht.

Der Bürgermeister des Stadtbezirks, der unsere Gastgeber finanziell erheblich unterstützte, erwähnte in seiner Begrüßungsansprache anlässlich eines Empfangs unserer Gruppe die düstere Vergangenheit kaum, sondern richtete den Blick mit Selbstbewusstsein und entschlossen auf die Zukunft. Mit sichtbarem Stolz präsentierte er uns das Schulwesen seines Bezirks, das, wie wir uns bei dem Besuch eines „Ökologischen Gymnasiums“ feststellen konnten, für Experimente vielfältigster Art offen ist. Für die russischen Schülerinnen und Schüler gibt es ein Zauberwort: „Fremdsprachenlernen“.

Widersprüchlich und faszinierend

 

Russland öffnet sich. Am letzten Abend wurde der Abschied in den Familien auf individuelle Art gefeiert (korrekter müsste man sagen „betrauert“) – Meine Gastmutter schob nach dem opulenten Essen kurzerhand den Tisch zur Seite und forderte mich zum Tanzen auf.

In den frühen Morgenstunden hieß es endgültig „Doswidanija“ zu sagen, denn unser Flug nach Moskau, der letzten Station unserer Reise, würde sicher nicht warten. Mit Gefühlen der Freude auf das nächste Treffen, aber dennoch schweren Herzens stiegen wir schließlich ins Flugzeug.

Bereits am Mittag, nach der Stadtrundfahrt in Moskau, strömten die meisten von uns ins Lenin-Mausoleum vor dem Kreml, um den Anblick des einbalsamierten Lenin bei unheimlicher Stimmung auf sich wirken zu lassen. Merkwürdig gespenstisch dieses Erlebnis, wie auch schon vorher in Sankt Petersburg der Panzerkreuzer „Aurora“, der das Signal zum Sturm auf das Winterpalais gegeben hatte und die Revolution startete.

Die Zeugnisse der revolutionären Geschichte wirken in diesem Land inzwischen sehr anachronistisch und unbeachtet. Immer wieder wird einem bewusst, daß das Experiment Sowjetunion gescheitert ist. Die Menschen haben kaum die Muße, sich um die Geschichte zu kümmern. Sie müssen die Gegenwart überstehen und sich um die Zukunft kümmern.

Am Nachmittag machten wir, neugierig und mit dem Metroplan bewaffnet, in kleinen Gruppen die Metropole unsicher. Auf keinen Fall durften wir natürlich das wegen seiner nostalgischen Bauweise berühmte Kaufhaus „GUM“ entgehen lassen, in das, wie wir feststellten, z.B. mit Karstadt der westliche Einfluß Einzug gehalten hatte. Auch das Künstlerviertel „Arbat“ besitzt natürlich trotz strömenden Regens seine Reize. Daneben genossen wir die Fahrten mit der Metro, wobei wir uns über die prunkvollen Stationen wunderten, die in so großem Kontrast stehen zu den Bettlern und den armen Menschen, die ihre Habseligkeiten überall zum Kauf anbieten.

Zunächst unverständlich für uns war der Fahrpreis der U-Bahn(1 Pfennig).  Später klärte man uns darüber auf, daß der Preis gemessen am Durchschnittseinkommen der Russen – 30 DM – gar nicht mehr so niedrig ist, wie  wir dachten. Einige verbrachten den Abend im Bolschoj-Theater (Tschaikowskijs „Evgenij Onegin“ – Karten auf dem Schwarzmarkt gegen Devisen). Wer Nachtleben einmal anders erleben möchte, dem sei der Rote Platz „by night“ empfohlen: das Bild von Menschen aus aller Herren Länder, der beleuchtete Kreml und der traditionelle Wachwechsel vor dem Mausoleum vervollständigten die Impressionen, die wir am nächsten Tag mit nach Hause nahmen.

Zufrieden und müde geworden von Neuem, Faszinierendem, Fremdem, Interessantem und Ergreifendem fielen wir dann am Düsseldorfer Flughafen unseren Eltern in die Arme. Die Reise in ein riesiges, aufgewühltes, schönes, sehr widersprüchliches und deshalb faszinierendes Land war zu Ende.

(Kopie des Berichts von Guido Hopf und U. Schulte-Ebbert von 1992)