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Es zeigt sich die Verunsicherung angesichts der Veränderungen

31.08.1994 - Ein Traum ist in Erfüllung gegangen, das gestanden die Schülerinnen und Schüler vom Albert-Schweitzer- und vom Geschwister-Scholl-Gymnasium freudestrahlend dem Vertreter der Regionalzeitung in Wladimir, als sie das Foto mit dem weltberühmten Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Isajewitsch Solschenizyn "im Kasten" hatten.

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Die deutschen "Kinderchen" mit dem Nobelpreisträger
(ein Gesicht aus rechtlichen Gründen unkenntlich gemacht)

Und tatsächlich: Niemand hätte eine solche Begegnung für möglich gehalten, als wir am 31. August in dem unüberschaubaren Gedränge vor dem Kulturpalast der 150 km östlich von Moskau gelegenen Gebietshauptstadt Wladimir uns gegenseitig aus den Augen verloren und mit der riesigen Menge von festlich gekleideten Menschen vorbei an den energisch eingreifenden, hünenhaften Elitesoldaten am Eingang in das Gebäude gedrückt wurden. Der große Theatersaal war längst überfüllt, die Gänge verstopft, im Foyer drängten sich die Menschen, um an den Lautsprechern das Ereignis des Tages zu verfolgen: Alexander Solschenizyns Begegnung mit den Einwohnern der alten Stadt Wladimir, eine jener Veranstaltungen, die der 75-jährige Schriftsteller seit seiner Rückkehr aus dem 20jährigen Exil überall in Rußland durchführt, begeistert gefeiert von konservativen Patrioten, mißtrauisch beobachtet von den Regierenden.
Im Rahmen unseres Austausches mit der Schule 117 in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, fuhren wir in diesem Jahr zunächst nach Wladimir, damit die Schülerinnen und Schüler die schönen Städte des alten Rußlands kennenlernen, bevor wir uns in den Zug setzten, um 1200 km südlich an der Wolga mit unseren Freunden zusammenzutreffen. Als wir in Wladimir zufällig im Radio von der Veranstaltung mit Alexander Solschenizyn erfuhren, stand unser Ziel fest: ein Gruppenfoto mit diesem großen russischen Schriftsteller, der 1970 den Nobelpreis erhielt und 1974 aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde.

Die Rückkehr - ein Politikum

Daß seine Rückkehr nach Rußland ein Politikum ist, zeigte auch dieser Abend. Erwartungsvolle Stille vor dem Auftritt Solschenizyns. Mit freundlichem, keineswegs enthusiastischem Applaus wird er begrüßt, Blumen werden überreicht. Zunächst erhält das Publikum Gelegenheit, Fragen zu stellen, aber auch Meinungen zu äußern. Solschenizyn selbst, ausgerüstet mit einer dicken Schreibmappe und verschiedenfarbigen Stiften, schreibt konzentriert mit und nimmt dann zu dem Gehörten Stellung.

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Viele Fragesteller halten sich an den Saalmikrofonen bereit: der Kriegsveteran, für den dieser denkwürdige 31. August, an dem die letzten russischen Soldaten Deutschland verlassen, die Besiegelung der Niederlage Rußlands bedeutet und der Solschenizyn des Verrats bezichtigt; der Lehrer, der pathetisch ein Solschenizyn gewidmetes, selbstverfaßtes, überlanges Gedicht rezitiert und erst vom Applaus des Publikums zum Schweigen gebracht werden kann; der Vater, der etwas verlegen gesteht, daß er eigentlich gar keine Frage stellen wolle, sondern nur seiner Tochter versprochen habe, ein Autogramm des Dichters zu besorgen und es auf diese Weise auch erhält; die Bibliothekarin, die von Solschenizyn kulturelle und moralische Ideale erwartet; der Student, der die von ihm ausgearbeitete Grafik eines idealen politischen Neuaufbaus Rußlands überreicht; der alte ehemalige Lagerinsasse, der, von Solschenizyn umarmt und mit dem Bruderkuß begrüßt, die Aufklärung der stalinistischen Verbrechen im GULAG fordert; der Lehrer, der Solschenizyn bittet, sich am Vorabend des Schuljahresbeginns an die Schüler zu wenden und ihnen eine Perspektive zu zeigen; die Ingenieurin, die angesichts der Flut billigster amerikanischer Filme den kulturellen Niedergang in den Medien beklagt; der Journalist, der nach dem Verhältnis von Politik und Moral fragt, und viele andere mehr.

Moralische Führung erwartet

Der Abend zeigt, wieviel Idealismus, aber auch politische Naivität in der russischen Provinz vorhanden ist, wie die Menschen sich noch überwinden müssen, in der öffentlichkeit mit einer klaren Meinung aufzutreten, wie stark das Bedürfnis ist, seine Sorgen mitzuteilen und wie groß nach wie vor die Hoffnungen sind, die in diesem Land auf die Schriftsteller gesetzt werden, wenn man von ihnen moralische Führung erwartet. Es zeigen sich die Brüche, die durch diese ehemals festgefügte Gesellschaft gehen, die Verunsicherung angesichts des Verlustes alter Ideale und all der Veränderungen, mit denen die Menschen noch nicht umzugehen gelernt haben.
In einem einstündigen Vortrag geht Solschenizyn auf die Fragen ein. Er spricht temperamentvoll, engagiert. Viel Beifall erhält er, wenn er die Regierenden angreift, ihnen vorwirft, eine Scheindemokratie zum Nutzen von Geschäftemachern errichtet zu haben, unfähig und nicht willens zu sein, das Verbrechen wirksam zu bekämpfen. Sol-schenizyn erteilt Nachhilfe in Demokratie. Er kritisiert die Neigung der Russen, die Gründung von Parteien bereits für Politik zu halten, und ruft dazu auf, nicht immer gebannt nach Moskau zu starren, sondern vor Ort mit der Demokratie zu beginnen. Solschenizyn setzt auf die Menschen und ihre Bereitschaft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Er tritt nicht als Volkstribun auf oder als Demagoge, der die Regierung stürzen will. Politische Ambitionen zu haben, streitet er ab.
Die sehr disziplinierten und zurückhaltenden Zuhörer spenden eher respektvoll als begeistert Applaus. Die Menschen verlassen nachdenklich den Saal, diskutieren weiter in kleinen Gruppen. Viele andere warten mit Solschenizyns Büchern in der Hand geduldig auf ein Autogramm.

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Ein enorm anstrengender Abend liegt hinter dem 75jährigen. als er zu den "deutschen Kinderchen" aus Marl kommt, um den an ihn übermittelten Wunsch nach einem Foto zu erfüllen. Wie wir von ihm erfahren, besucht er am nächsten Tag das Dorf Milzevo. wo er nach seiner Verbannungszeit in Kasachstan 1956 wieder als Lehrer an der Schule begann. Er wohnte dort bei Matrjona Wasiljevna Zacharova, der er in seiner berühmten Erzählung "Matrjonas Hof" ein Denkmal gesetzt hat. Ihr Haus wurde restauriert. Für Alexander Solschenizyn eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit. (se)